Andere wissen immer mehr über dich als du selbst. So kennt man das, das hat bestimmt jeder schon mal gehört. Von außen sieht man immer klarer, sagen auch viele. Stimmt, als Außenstehender, emotional nicht so eng verbunden, nicht verwandt oder verschwägert, wie man so schön sagt, hat man auf jeden Fall einen anderen Blick auf die Dinge. Und ja, manchmal wissen die Menschen um einen herum wirklich besser Bescheid. Aber nicht immer! Und schon gar nicht hat das Umfeld das Recht, dich pauschal als krank abzustempeln. Meistens passiert das, wenn du nicht so funktionierst, wie sie es gerne hätten!
Veränderung wahrnehmen
Es kann beunruhigend sein, wenn sich ein vertrauter Mensch plötzlich verändert und uns fremd wird. Vor allem wenn wir keinen nachvollziehbaren Grund ausmachen können. Rutscht hier jemand in einen Erschöpfungszustand? Übernimmt derjenige sich? Schnell tauchen “Diagnosen“ wie: Depression, Persönlichkeitsstörung, bipolar oder Angststörung auf. Jeder wird plötzlich zum Spezialisten und glaubt zu erkennen, was bei demjenigen passiert. Das Schlimmste vorweg. Gesellschaftlich sind diese genannten psychischen Themen nach wie vor weniger akzeptiert, als etwa ein Beinbruch. Warum das so ist? Dazu komme ich später im Artikel.
Zunächst ist es schön, Menschen um sich zu haben, die sich um einen kümmern und sorgen. Es kann aber auch zu viel werden und vor allem schnell übergriffig und auch verletzend werden. Wer möchte schon von seiner Freundin für psychisch krank erklärt werden? Niemand, da bin ich mir sicher. Veränderungen oder ungewöhnliches Verhalten zu bemerken ist gut und sinnvoll. Es ist aber wichtig, dieses veränderte Verhalten im Kontext zu sehen. Die Gesamtsituation ist entscheidend, um beurteilen zu können, ob es sich um eine krankhafte Veränderung oder um eine vorübergehende Verstimmung handelt. Hat man einmal Irritationen festgestellt, sucht man nach Hinweisen und beobachtet einzelne Situationen sehr genau. Vielleicht googelt man oder sucht andere kluge Ratgeber, die den eigenen Verdacht bestätigen. Oft merkt man dann nicht, dass man sich verrennt. Im Folgenden nenne ich Merkmale, die auf eine psychische Erkrankung hindeuten können.
- sozialer Rückzug
- anhaltende Schlafstörungen
- Gereiztheit, Aggression, passiv aggressiv
- Antriebslosigkeit, keinen Sinn sehen
- verändertes Essverhalten (zu viel, zu wenig)
- unangemessene Angst und Panik; für eine einzelne Situation überzogene Reaktion
- Hypochondrie
- Menschen, aus dem Umfeld, maßregeln, abwerten, bewusst kränken
- immer kleinere Ereignisse, werden zu größeren Problemen (da parkt jemand auf meinem Parkplatz oder die Baustelle auf dem Weg zur Arbeit sorgt für Schweißausbrüche) wenn es über längere Zeit immer wieder auftritt!
- plötzlich “nah am Wasser gebaut“ sein
Wie gesagt, alles muss im Zusammenhang gesehen werden. Sicherlich ist eine Woche mit wenig Schlaf keine psychische Erkrankung oder das „Ich habe heute keine Lust zur Arbeit zu gehen“ keine Depression. Ich muss immer sehen, wie die Grundstimmung der Person ist und inwieweit sie sich verändert. Wenn ein sehr aktiver, lebensfroher Mensch plötzlich ins Gegenteil kippt, dann kann man schon stutzig werden. Bei jemandem, der insgesamt nicht so lebensbejahend ist, fällt das vielleicht weniger auf. Aber es ist nicht weniger gefährlich. Vorsicht mit eigenen Diagnosen.
Nicht mit der Tür ins Haus fallen
Bleibt der Verdacht einer psychischen Erkrankung bestehen und wächst die Sorge um einen lieben Menschen, gilt es den richtigen Weg zu finden, ihn mit den Gedanken zu konfrontieren. Hier ist definitiv Fingerspitzengefühl gefragt. Eine Idee, wie es gehen kann:
Wahrnehmung bei sich selbst konkret hinterfragen. Was nehme ich wirklich wahr? In welchen Situationen nehme ich es als besonders auffällig wahr? Erst einmal für sich klar werden. Dann in die Kommunikation. Nicht wertend sondern wertfrei!
- mir ist aufgefallen, dass du dich in letzter Zeit sehr stark zurück ziehst, insbesondere bei Treffen außerhalb der Wohnung. Ich habe mich gefragt, woran es liegen kann.. Weißt du es?
- du hast dich immer sehr auf den Urlaub gefreut, bisher hast du noch nicht geschaut, würde es dir helfen, wenn ich es übernehme?
- mich interessiert ob du auch wahrnimmst, dass du häufiger müde und antriebslos wirkst?
- weißt du woran es liegt, dass du nicht mehr so gerne mit dem Rad fährst?
Wichtig ist, dass du respektvoll sprichst wird und immer ein Feedback zu deinen eigenen Gedanken einholst. Es sollte kein Machtkampf ausgetragen werden oder eine Diskussion ausbrechen, wer recht hat oder nicht. Ebenfalls sollte nicht die eigene Lösung aufs Auge drücken werden. Jeder Mensch hat noch die Verantwortung für sich selbst. Du hast deine erfüllt, wenn du es ansprichst. Alles danach darf derjenige gerne selbst in die Hand nehmen. Vielleicht gibst du noch mit, dass du immer ansprechbar bist und bereit bist zu unterstützen. Genau das gilt auch für das Verhakten dir gegenüber. Niemand kann einfach hingehen und sagen: “Du hast ein psychisches Problem“. Häufig fällt das Wort Persönlichkeitsstörung. Damit sollte man ganz vorsichtig umgehen. Nur weil jemand nicht agiert, wie man es gerne hätte oder vielleicht gewohnt ist, hat derjenige nicht automatisch eine Persönlichkeitsstörung. Ärzte verstehe unter einer Persönlichkeitsstörung üblicherweise:
wenn Menschen sich selbst oder andere ständig auf eine Weise beurteilen, die von der Realität abweicht oder, wenn ihre Handlungen kontinuierlich negative Folgen nach sich ziehen.
Da sollte also vielleicht derjenige, der diesen Verdacht äußert, bei sich schauen. Ich erinnere an Peter und Paul. Wenn Paul etwas über Peter sagt, sagt das mehr über Paul…
Bekannte Persönlichkeitsstörungen sind Schizophrenie, Paranoia, Somatische Störungen, bestimmte Essstörungen und auch Angststörungen fallen in diese sogenannten Persönlichkeitsstörungen. Es gibt aber auch Erkrankungen, die die Persönlichkeit stark beeinflussen (Parkinson, Alzheimer, selbst chronische Darmerkrankungen können Einfluss auf die Persönlichkeit nehmen), dann ist die Persönlichkeitsstörung eine Begleiterscheinung oder unerwünschte Nebenwirkung. Also achtsam mit dieser Diagnose umgehen.
Psyche in der Gesellschaft
Ich habe bereits erwähnt, dass psychische Erkrankungen noch nicht vollständig gesellschaftlich akzeptiert sind. Insgesamt ist die Akzeptanz aber deutlich höher als noch vor 20 Jahren. Der Begriff Depression wird ja schon fast inflationär verwendet. Ich glaube, auch aufgrund meiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema (das 2. Staatsexamen beschäftigte sich mit psychosozialen Zusammenhängen und dem Einfluss von Umwelt und Psychopharmaka), dass genau hier das Problem liegt. Die meisten Menschen wissen nicht, was eine Depression ist. Was es bedeutet, psychisch krank zu sein, ist den meisten Menschen nicht wirklich bewusst. Deshalb werden Begriffe wie: Depression, Burn-out, bipolare Störung usw. für jede noch so kleine Verstimmung verwendet. Damit wird aber die Bedeutung der Krankheit heruntergespielt. Nach dem Motto: „Wenn es jeder hat, kann es ja nicht unnormal sein“. Die Folge davon ist, dass Menschen, die wirklich darunter leiden, nicht so ernst genommen werden oder einen viel härteren Weg vor sich haben, bis sie akzeptiert werden. Dadurch steigt natürlich auch die Angst vor Ausgrenzung oder Ablehnung, was wiederum Symptome begünstigen und eine psychische Erkrankung manifestieren kann. Nicht selten kann eine Stigmatisierung den Heilungsprozess hemmen, da Betroffene oftmals erst spät einen Arzt aufsuchen, um nicht mit einer Diagnose konfrontiert zu werden. Aus diesen Gründen wird die Stigmatisierung oftmals auch „die zweite Krankheit“ genannt.
Man darf nicht außer Acht lassen, dass das Thema heute auch wissenschaftlich einen viel höheren Stellenwert hat als noch vor 30, 40 oder mehr Jahren. Das heißt, es gibt heute auch eine Generation, die sagt: „Das hat es zu unserer Zeit nicht gegeben“. Die Nachkriegsgeneration hatte buchstäblich keine Zeit, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Dadurch ist in vielen Lebensbereichen, in Traditionsunternehmen, in Unternehmen, die über Generationen hinweg geführt werden, das Verständnis oder Bewusstsein dafür, nicht sehr groß. Natürlich gab es keine sozialen Medien, keine Apps oder andere mediale Tools, die einem jeden Tag vorgeben, was richtig und was falsch ist. Das heißt, die Informationsflut ist unglaublich groß geworden. Genauso groß ist die Flut an falschen und krankmachenden Informationen. Von allen Seiten wird uns eingetrichtert, wie wir zu funktionieren und zu handeln haben. Die frühere Generation hat sich auf Intuition und Instinkt verlassen. Das wird der heutigen Generation völlig abtrainiert und faktisch abgenommen. Ratgeber, die einem sagen, wann man wie zu reagieren hat und wann es falsch ist, nehmen einem jeglichen Instinkt. Wenn ich in Büchern lese, in welchem Monat die Zähne kommen, die Fingernägel wachsen oder sich der Körper zurück entwickelt, gehen mir persönlich die Nackenhaare hoch. Dann frage ich mich, wie meine Eltern oder auch ich ohne diesen Kram bisher überlebt haben. All das erhöht den Reiz und fördert das Gefühl, nicht zu funktionieren oder falsch zu sein, da kein Körper, kein Organismus dem anderen gleicht und diverse Literatur nur Hinweise geben kann. Niemals dürfen diese 1:1 auf das Leben projiziert werden. Das sind Faktoren, die eine psychische Erkrankung begünstigen können. Der ständige Vergleich mit anderen, die ständige Konfrontation mit Perfektionismus (den es so gar nicht gibt), ständig neue Studien und Erkenntnisse, die selten etwas Neues bringen, aber erst einmal gut klingen. Das alles kann krank machen. Ich beneide die Generation, die das nicht erlebt hat und bin froh, dass ich mich dem entziehen kann. Das darfst du auch!
Eine weitere Folge ist die Unterforderung der (jungen) Menschen. Da die Informationsflut immer größer wird und gleichzeitig immer mehr Möglichkeiten geschaffen werden, an diese Informationen zu gelangen, haben die Menschen immer mehr Angst, dem gewachsen zu sein. Das betrifft Erwachsene, die immer sensibler werden, aber auch Kinder und Jugendliche, die immer weniger aushalten. Jede Form von Leistung und Wettbewerb wird verboten oder stark eingeschränkt, so dass kein Kind mehr lernt, stark und leistungsfähig zu sein. Immer mehr Jugendliche nehmen Psychopharmaka bzw. Medikamente, die sie in irgendeiner Weise beeinflussen. Es wird auch relativ wenig dafür getan, dass Menschen verstehen, dass Tabletten keine Probleme lösen. (Ich habe selbst 14 Jahre in einer Apotheke gearbeitet und Menschen diese Medikamente ausgehändigt und dazu beraten). Der Druck, in der Gesellschaft bestehen zu müssen, nimmt zu. Ängste und Verhaltensauffälligkeiten sind vorprogrammiert. Wenn dann noch psychische Vorbelastungen in der Familie vorhanden sind, ist es fast unausweichlich, dass das Kind davon beeinflusst wird. In den ersten 11 Lebensjahren wird der Grundstein für das Selbstwertgefühl eines Kindes gelegt. Ich bin sehr dankbar, dass ich einen Beruf habe, in dem ich Menschen helfen kann, das, was in diesen Jahren schief gelaufen ist, wieder in Ordnung zu bringen. Für ein leichteres, seelisch gesünderes und unbeschwerteres Leben.
Es gibt nicht DEN einen Weg
Tatsache ist: Psychische Erkrankungen können jeden treffen. Bestimmte Ereignisse, der Verlust eines geliebten Menschen, emotionale Vernachlässigung, Manipulation, Einflüsse von außen… Es gibt viele Auslöser oder Faktoren, die unser seelisches Wohlbefinden beeinflussen. Für diese Fälle ist es gut und wichtig, dass es Medikamente gibt, die den Menschen helfen, wieder aktiv zu werden. Tatsache ist aber auch, dass wir wieder lernen müssen, uns selbst zu vertrauen und unseren Selbstwert hochzuhalten. Es darf nicht sein, dass Jugendliche unter Angst und Panikattacken leiden, weil das Leben einem Kampf gleicht. Es darf nicht sein, dass Menschen allein gelassen werden und der schnelle Griff zu Tabletten der einzige Weg ist, um durchs Leben zu kommen. Es darf nicht sein, dass diese Form der „Therapie“ als normal angesehen wird. Ich bin aber auch der Meinung, dass eigene Diagnosen oder Begriffe, die man bei Google unter psychischen Erkrankungen findet, nicht inflationär verwendet werden dürfen und nicht alles und jedes als Depression oder psychische Erkrankung bezeichnet werden darf. Dadurch verliert die Krankheit an Bedeutung. Eine emotionale Feinfühligkeit oder eine einzelne, sehr zentrierte Angst ist nicht sofort eine psychische Erkrankung!
Kurzer Exkurs zum Thema Beziehung
Da ich hauptsächlich mit Paaren arbeite, ist es mir natürlich ein Anliegen, dazu etwas zu schreiben. Für den Partner einer psychisch kranken Person ist es nicht einfach und auch keine leichte Situation. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass der Partner niemals der Therapeut ist. Die Rolle des Partners ist eine andere und sollte es auch bleiben. Natürlich kann der Partner eine Stütze sein, natürlich ist es toll, wenn jemand da ist, der sich kümmert, der sich sorgt, der einem positiv zur Seite steht. ABER es darf nicht zur Selbstverständlichkeit oder gar zur Erwartungshaltung werden, dass der Partner bestimmte Dinge tut oder lässt. Jeder Partner, der liebt, tut vieles automatisch und auch selbstverständlich. Es ist aber nicht die Pflicht und die Aufgabe, die ein Partner zu erfüllen hat. Schnell gerät man in eine Überverantwortung, die am Ende zu Vorwürfen und einem verzerrten Bild des Partners führen kann. Der Partner hat auch ein eigenes Seelenleben und je nach Grundkonstruktion dieser Seele kann das schnell zu einer Gegenübertragung führen und dann fällt der Partner hinterher in ein Loch oder währenddessen schon, das wäre fatal. Es gibt aber auch Menschen, die das jahrelang aushalten und dann regelrecht aus der Beziehung flüchten, weil sie ihre Identität verloren haben. Psychische Erkrankungen, egal welcher Art, sind für Betroffene und Angehörige nicht schön und eine große Herausforderung. Deshalb rate ich, sich Rat und Hilfe von außen zu holen und nicht nur den Partner zu belasten. Offene und ehrliche Kommunikation sind hier das A und O. Ebenfalls eine gesunde Selbstreflexion, um zu erkennen an welchem Punkt man selbst steht und inwieweit das die Beziehung belastet.
– Die Psyche des Menschen ist unergründlich –
So wird es wohl immer sein. Der Artikel dient der Impulsgebung und Beleuchtung ein paar weniger Faktoren. Wenn hierdurch nur ein Mensch verstanden hat, dass er nicht krank ist, weil er mal traurig oder lustlos ist und genau dieser Mensch wieder an sich selbst glaubt und sein Leben selbst in die Hand nimmt, dann habe ich erreicht, was ich möchte!
Du bist nicht krank, weil du nicht funktionierst, wie andere es gerne hätten! 😉
Dein Coach Nadja